Welchen Preis hat die Freiheit? Lena Müller erzählt in ihrem Debütroman Restlöcher von der Suche nach dem richtigen Platz in der Gesellschaft zwischen Familie und politischem Engagement, Häuslichkeit und alternativen Lebensmodellen.
Auf der einen Seite sind da die Geschwister Sando und Mili: Sando ist im akademischen Mittelbau tätig und in einer unglücklichen Beziehung mit einem jungen Mann, der sich selbst „der Fuchs“ nennt. Dieser Fuchs ist bei jeder Gelegenheit auf politischen Versammlungen und Demonstrationen unterwegs und lässt sich nur wenig auf die harmonische Zweierbeziehung ein, die Sando sich wünscht. Mili hat sich mit mehreren Freunden auf dem Land einen alten Bauernhof gekauft, lebt dort mit ihnen gemeinsam und betreibt eine kleine Backstube.
Parallel dazu erzählt Lena Müller die Geschichte von Sandos und Milis Eltern Dieter und Clara – und hier setzt auch die Handlung ein: Clara ist weg. Als Sando und Mili davon erfahren, machen sie sich auf den Weg zu Dieter, der nicht wirklich besorgt scheint: Denn Clara war schon einmal ohne Ankündigung von der Bildfläche verschwunden, kurz nachdem sie ihr Studium in Berlin beendet hatte.
Claras Zeit in Berlin macht als ausführliche Binnenerzählung den Mittelteil des Romans aus. Es sind die achtziger Jahre, Clara und Dieter sind frisch verheiratet und junge Eltern, aber Clara kann sich mit der Idee vom kleinen Glück nicht anfreunden – sie will studieren. Mit Dieter trifft sie eine Abmachung: Sie geht mit Sando und Mili an die Freie Universität in Berlin, nach dem Ende ihres Studiums wird sie wieder zu ihm zurückkehren.

Stimmungsvoll porträtiert Lena Müller das Leben Claras in einer Wohngemeinschaft im Studentendorf Schlachtensee, einem modernen Bauensemble, geprägt vom Aufbruchsgeist der Nachkriegszeit (und heute ein Bau- und Gartendenkmal der Stadt Berlin). Eine besonders enge Freundschaft entsteht zwischen Clara und ihrem Mitbewohner Pablo, den sie schließlich spontan nach Spanien begleitet.
In Dokumenten und Erinnerungen lassen Dieter, Mili und Sando die Geschichte von Claras Selbstfindung Revue passieren. Man erkennt Parallelen zum Verhältnis von Sando und dem Fuchs, der sich auch nicht in die romantische Vorstellung der Paarbeziehung zwängen lässt. Schließlich kommt es zu einem Wiedersehen in Schlachtensee: Einer spontanen Eingebung folgend, fährt Sando nach Berlin und trifft dort tatsächlich seine Mutter wieder, die sich auch auf einer Reise in ihre Vergangenheit begeben hat. Sie erinnert sich:
„Die Möglichkeit zu gehen ist immer enthalten.“ Die Mutter denkt nach, dann: „Weil wir nicht nur die sind, die sich die anderen wünschen. Damals, im Studium, hatte ich ein Gefühl von Aufbruch. Ein großer, alle Lebensbereiche umfassender Aufbruch, meine ersten, feministischen Jahre. Damals wusste ich: Bewegung ist dort, wo Frauen sind. Ich war mir sicher, die Veränderung wird von den Frauen kommen, die Männer verharren, stecken tief drin im Sumpf der Vergangenheit, halten sich fest am Alten und haben keine Ideen mehr. Da fand ich, dass die Frauen, aber auch alle, auch die Männer, die ganze Gesellschaft, sehr viel zu gewinnen hatten.“
Auf bemerkenswerte Weise gelingt es Lena Müller in diesem Roman, auf nur wenigen Seiten ein authentisches Porträt von zwei Generationen zu zeichnen. Auch wenn sie viel unterscheidet – die Frage nach dem richtigen Platz in der Gesellschaft muss sich jede aufs Neue stellen.