Treibend für diese Bewegung ist die charismatische und willensstarke Kerze (sie hat sich den Namen übrigens selbst gegeben), elf Jahre alt und fest entschlossen, ihren Auftrag zu Ende zu führen. Dabei geht sie beeindruckend souverän, aber auch mit einer mitunter grausamen Unerbittlichkeit als Anführerin vor:
Stumm, die Zähne aufeinandergepresst, treibt sie die Gruppe vorwärts und führt sie tiefer und tiefer in den Wald hinein. Denn sie weiß, es wird besser werden. Sie werden sich an die Schmerzen gewöhnen, bis sie auf ein erträgliches Maß schrumpfen und schließlich ganz vergehen. Nichts bleibt so schlimm, wie es am Anfang scheint, das weiß sie, das hat sie erlebt. Es gibt keinen unbesiegbaren Gegner. Die Grenzen sind durchlässig, immer.
„Zerschlagt die Moleküle“, ruft Kerze am sechsten Tag, als alle nur noch wimmern.
„Ich kann nicht mehr“, jammert Flori.
„Doch, du kannst!“
Daneben stellen mehrere Nebenhandlungen die zurückgebliebenen Bewohner des Dorfes näher vor, durch die mit der Zeit ein immer deutlicherer Riss geht: Auf der einen Seite steht Hilde Hitschke (oder einfach nur: „die Hitschke“, um in der Sprache des Romans zu bleiben), deren Welt langsam zerbricht, weil nach ihrem Mann Karl, der sie vor sechs Jahren verlassen hat, nun auch noch ihr Hund verschwunden ist; auf der anderen Seite steht der Sohn des Großbauern Huber („der Hubersohn“), ein zarter junger Mann, der so gar nicht für das Landleben gemacht ist, aber dafür um so mehr den starken Macher hervorkehren will und eine Bürgerwehr auf die Beine stellt, die dafür sorgen soll, dass die Kinder wieder zurückkehren.
Verena Güntner erzählt diese Geschichte, die sich mit der Zeit immer mehr auf einen düsten Showdown hinzubewegen droht, in einer mitreißend direkten Sprache, am Sound ihres Debüts Es bringen geschult, in dem sie sich gekonnt den Blickwinkel eines großspurig auftretenden Teenagers angeeignet hat. Gleichzeitig wirkt diese aus den Fugen geratende Abenteuergeschichte wie eine Parabel, die entschlossen mit gesellschaftlichen Phänomenen wie Verrohung, Zusammenbruch der Kommunikation und dem Zerbrechen von Zusammenhalt abrechnet.
Verena Güntner: Power. DuMont Buchverlag, 254 Seiten, 22 €
Verena Güntner ist zusammen mit Maren Kames, Leif Randt, Ingo Schulze und Lutz Seiler für den Preis der Leipziger Buchmesse 2020 in der Kategorie Belletristik nominiert. Die Preisverleihung findet am 12. März im Rahmen der Leipziger Buchmesse statt.