
In seinem neuen Roman Kali. Eine Vorwintergeschichte besingt Peter Handke die edle Einfalt des Salzbergwerks.
160 Seiten, groß bedruckt. Bei einem konstanten Lesetempo von etwa zwei Seiten pro Minute hat man Kali. Eine Vorwintergeschichte in gut zweieinhalb Stunden durch. Was bietet der neue Handke in diesem knapp bemessenen Zeitraum dem Leser?
Eine namenlose Sängerin unternimmt eine Reise zu einem fremden Ort, dem „Toten Winkel“, wo ein surrealer Salzberg die Landschaft überschattet. Der Gemeinschaft um das Bergwerk dort kommen auf mysteriöse Weise die Kinder abhanden, „verschwinden, gehen, jeden Tag mehr, verloren, sind verschollen.“ Handkes Heldin wird den jüngst verschollenen Andrea wiederfinden. Doch davon weiß sie zunächst nichts.
Der Roman setzt ein nach dem letzten Auftritt ihrer Tournee; gleichzeitig ist es auch der Beginn des Winters. Eine geheimnisvolle Bestimmung veranlasst die „Vorwintersängerin“ Genannte, die Großstadt der Hochhäuser, Neonreklamen und Zeitungsverkäufer, die den Ewigen Frieden ausrufen, während die Zeitungen vom Dritten Weltkrieg berichten, zu verlassen. Ziel ist ihr Kindheitsort, genauer: die Nachbargegend dieses Ortes, der Tote Winkel. Grund für die Abreise ist die Liebe – zu wem, wird hier vorerst nur rätselhaft umschrieben: „Einer gehört mir. Wird mir gehören. Einer. Bald schon. Demnächst. So steht es geschrieben. Er weiß es bloß noch nicht. Wehe ihm. Wohl ihm.“
Als die Sängerin, nun schon im Fernzug, in einem tags zuvor gefundenen, verkohlten Buch blättert, stößt sie unvermittelt auf die Überschrift „Un pays dont nul ne revient“. Das Buch ist Chrétiens Lancelot, und „ein Land, aus welchem keiner wiederkehrt“ scheint nun auch das Ziel der Sängerin zu sein: Angekommen an ihrem Kindheitsort, zieht sie nach einem nur kurzem Aufenthalt weiter zu einem Gewässer, laut Hinweisschildern zwar als „Meer“ tituliert, augenscheinlich „freilich eher ein See“. Sie setzt per Schiff über zum Salzberg am jenseitigen Ufer. Herrschte schon zuvor der Eindruck, dass hier im wörtlichen Sinne „Neuland“ betreten wird, macht der Erzähler es nun explizit: „Die Ankunft in dem Hafen war die an einer Grenze, an einer Grenze von der Art, wie sie in unseren Breiten längst abgeschafft sind – unwillkürlich wollte man seinen Paß ziehen.“
Der nicht näher erklärte, rätselhafte Ausspruch „Einer wird mir gehören“ wird nun aufgeklärt: Es ist der Leiter des Salzbergwerks, zu dem die Sängerin in einer traumwandlerischen Bewegung hingezogen wurde. Dieser hat sie schon erwartet und ist bereit, sich auf sie einzulassen, doch wird ihm auf einmal klar, dass es für sie und ihn den Tod bedeutet. „Sie, Frau, verkörpern den Tod.“ – „Ja, wenn wir beide, unser beider Körper, einander lieben, müssen wir sterben, Sie mit mir, und ich mit Ihnen. Jetzt ist es gesagt. Und da es gesagt ist, hat es zu geschehen.“
Peter Handke versammelt in seinem neuen, kurzen Buch mythische Figuren in einer eigenartigen Gegenwelt, die Züge der unsrigen trägt, gleichzeitig aber magisch aufgeladen ist. Eine entsprechende Deutung der Titelheldin liegt bereits vor: dass „sie“, die namenlose Sängerin, letztlich niemand anderes als eine Verkörperung der indischen Totengöttin Kali ist, aus deren Vernichtungstanz neues Leben entsteht. Damit erweist sich der Romantitel rückblickend als doppeldeutig, und die merkwürdige Handlung fügt sich in ein Ganzes: Kali, die Sängerin (auch wenn sie im Buch nie so genannt wird), flüchtet aus einer gänzlich verkommenen Welt ins märchenhafte Land des Kalisalzbergs, um dort zusammen mit dem „Salzherrn“ zu sterben.
Doch soweit kommt es nicht. In einer bezaubernden Szene, kurz vor dem Todessprung vom Gipfel des Salzbergs, ertönt plötzlich eine Stimme aus dem tosenden Wind: „Allein daß du es gesagt hast, heißt nicht, daß du es tun mußt. Denn nirgends steht es geschrieben“, und weiter: „Ihr seid frei. Ab mit euch.“
Handkes Helden erfahren eine Erlösung vom Tod und zugleich vom bestimmenden Schicksal, das ihnen der Mythos auferlegte. In einer ähnlich märchenhaften Szene entdeckt die Sängerin, die auch eine „Finderin“ ist, zu guter Letzt das verschwundene Kind wieder und führt es in die in der Kirche (!) versammelte Gemeinschaft zurück. Auch die Bewohner des Toten Winkels werden so schließlich erlöst – ein Happy End wie aus dem Bilderbuch.
Der Ton ist recht feierlich, und auch wenn die mythische Ausgestaltung stellenweise etwas dick aufgetragen daherkommt, ist dies doch ein Roman mit einer auf eigenartige Weise magischen Atmosphäre geworden. Die eigenwillige, oft kindliche Sprache, die sich im Grenzbereich zum Lyrischen bewegt und eine Erzählinstanz, die sich mehr tastend fortbewegt und dabei nie viel mehr als der Leser selbst zu wissen scheint, schaffen eine Leichtigkeit, die Freude am Lesen macht. Bisweilen entstehen auf diese Weise sogar komische Effekte, beispielsweise wenn die Sängerin vom Erzähler holprig als „Eindringlingin“ bezeichnet wird. Die Verbitterung über die Welt, die Handke stellenweise überdeutlich anzumerken ist, wird dadurch dankenswerterweise etwas abgeschwächt.
Volker Weidermann erzählt in seiner Literaturgeschichte Lichtjahre die folgende Anekdote über Peter Handke: Als der junge Poet mit Beatles-Frisur auf dem Gruppe-47-Treffen in Princeton auftauchte und die ehrwürdigen Literaten erschreckte, griff Günter Grass kurzerhand zum Stift und schrieb dem Aufmüpfigen auf seine blaue Schirmmütze die Worte „Ich bin der Größte“. Es ist ein weiter Weg vom Auftakt als bewusst sich inszenierender Skandalschriftsteller, der seinen Gedichten Titel gab wie „Anleitung zu einem Amoklauf“, bis zum Handke dieser Tage. Am ehesten wohl zeigt dies der Roman Mein Jahr in der Niemandsbucht aus dem Jahr 1994, ein 600 Seiten starkes Epos über Vereinsamung, Abhandenkommen der Welt und das Schreiben darüber. Kali knüpft in Ton und Themenwahl vielleicht gerade an diesen Text an; wenig ist zu spüren von der heftig diskutierten verqueren Sicht auf das ehemalige Jugoslawien, die Handke im letzten Jahr bei den Querelen um den Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf wieder einholte.
Das letzte Wort sei daher der Pfarrerin überlassen: „Und nun ausgezittert. Weg von den Dramen. Weg auch von den Liedern. Und auch genug gepredigt – wenn ihr andrerseits dieses oder jenes Predigen hochhalten mögt. Zurück zur Prosa. Ihr seid alle bei mir drüben eingeladen.“
Peter Handke: Kali. Eine Vorwintergeschichte. Suhrkamp Verlag, 160 Seiten, 16,80 Euro
Erstmals erschienen im Online-Magazin der Kritischen Ausgabe am 8. Mai 2007