Die Holländerinnen von Dorothee Elmiger ist vielleicht der formal avancierteste Roman in diesem Bücherherbst. Auf zahlreichen erzählerischen Verzweigungen lässt sie die Schrecken des Urwaldes auf die Schrecken der menschlichen Existenz prallen.

Dorothee Elmiger, die der klassischen Romanform ohnehin stets misstraut (siehe die Recherchearbeit Aus der Zuckerfabrik von 2020), erzählt in Die Holländerin eine aufs Eleganteste verschachtelte und doppelbödige Geschichte: Eine namenlose Autorin, die als „eine der wichtigsten Stimmen ihrer Zeit“, bekannt durch Werke wie Die Bestrafung der Mägde und Das ätherische Zelt (man will diese Bücher sofort lesen!), wird auf ein Podium eingeladen und referiert dort in einer Art Poetikvorlesung von ihrem jüngsten, letztlich gescheiterten Erzählprojekt.

© Georg Gatsas

Bei dem Erzählprojekt handelt es sich um eine Auftragsarbeit für einen, ebenso nicht namentlich benannten „Theatermacher“, der ihr die Aufgabe zuweist, mit einem bunten Trupp von Crew und Laiendarsteller*innen bei einer Art Reenactment eines ebenso tragischen wie mysteriösen Ereignisses mitzumachen und darüber zu schreiben, und zwar in einem ebenfalls nicht näher geographisch bestimmten Urwald irgendwo an der nördlichen Hälfte der südamerikanischen Pazifikküste („zwischen den Wendekreisen“, wie es einmal heißt).

Das Kunststück, das Elmiger hier vollbringt, ist, dass die hier stets in der indirekten Rede wiedergegebene Geschichte (was das gesamte Gefühl, sich auf unsicherem Terrain zu bewegen, noch verstärkt), zahlreiche, bis ins Entfernteste abschweifende Dialoge und Erzählungen der locker zusammengewürfelten Theatercrew umfasst, Die Holländerinnen also gut und gerne auch ein Dialogroman sein könnte, in dem vordergründig nicht viel passiert – aber dem ist ganz und gar nicht so: Mit einer immensen Wucht drängt sich immer wieder die Szenerie des Urwalds, das undurchdringbare Dickicht und unüberblickbare Chaos der Natur, die plötzlichen heftigen Gewitter und die ebenso unmittelbar einsetzende umfassende Dunkelheit der Nächte, von fremden Tierlauten durchdrungen, in das Geschehen.

„Trotz der katholischen Erziehung, die sie erfahren habe, die ihr aber stets bedeutungslos geblieben sei, habe sie zum ersten Mal die Möglichkeit eines Gottes bedacht, eines großen, leeren Gottes, einer enormen Abwesenheit.“

Da klingt Werner Herzog mit an – der im Text, vor allem durch den Theatermacher, mehrmals auch mit den berüchtigten Kinski-Produktionen Fitzcarraldo und Aguirre, der Zorn Gottes anzitiert wird – ebenso wie der cosmic horror eines H.P. Lovecraft oder, natürlich, das berühmte „the horror, the horror“ aus Joseph Conrads Heart of Darkness, das sich so wortwörtlich auch im Bericht der Erzählerin wiederfindet.

Ein Schreckensroman? In jedem Fall auch ein Roman des menschlichen Schreckens: Die zahlreichen Exkurse in Form der Gespräche, die die Erzählerin mit den Crewmitgliedern führt, handeln von Gewalterfahrungen, der unheilvollen Interaktion zwischen Mensch und Tier (man erfährt beispielsweise mehr über das Zähmen von Pferden, als einem lieb ist) und dem langsamen Abgleiten ins Wahnhafte, ausgehend von einer einfachen Problematik wie einem defekten Kühlschrank.

Letztlich ist, und da schließt sich der Kreis zur Rahmenhandlung der Poetikvorlesung vor einem möglicherweise akademischen Publikum, Die Holländerinnen auch eine große Reflexion über das Erzählen selbst: Am Gewichtigsten vielleicht in der ausdrücklichen Referenz auf Walter Benjamins Essay Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Michail Lesskows, der einmal innerhalb des Berichts der Erzählerin, einmal aber auch als Randbemerkung im Rahmen der Poetikvorlesung auftaucht. Benjamins Reflexionen über die historische Transformation und den aktuellen Status des Erzählens laufen, zumindest so wie es hier angelegt ist, auf nichts anderes als den Tod hinaus: „Der Tod, so schreibe Benjamin, sei die Sanktion von allem, was der Erzähler berichten könne. Und weiter: Vom Tode habe er seine Autorität geliehen.“

Dorothee Elmiger: Die Holländerinnen. Hanser Verlag, 160 Seiten, 23 €